This article has been published in the Austrian Weekly "Die Furche" in January 2005. It takes a look at the relationship between migration and development in Albania - one of the poorest countries in Europe - based on an OECD expert mission to that country in October 2004.For pictures of that mission click here.
Dieser Artikel erschien im Jänner 2005 in der Österreichischen Wochenzeitschrift "Die Furche" unter dem Titel "Zuhause der Chef sein". Er beleuchtet den Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung in Albanien und basiert vor allem auf einer OECD Expertenmission im Oktober 2004. Für Bilder von der Mission bitte hier klicken.


Migration und Entwicklung in Albanien

Michael Jandl, 17.10.2004

Das Thema Migration ist nicht nur ein allgegenwärtiger Gegenstand heimischer Medien sondern beschäftigt auch die von Abwanderung betroffenen Herkunftsländer und – in zunehmenden Ausmaß – Entwicklungshilfeorganisationen. Ein Lokalaugenschein von einer OECD-Expertenmission in Albanien.

Vater und Sohn Avdian und Enver Koci strahlen. Nach anfänglichem Misstrauen gegenüber der kleinen Gruppe von neugierigen Fremden, die sich plötzlich so nachdrücklich für ihre Geschäfte interessieren, überwiegt schnell der Stolz und die Gastfreundschaft der Albaner und sie schildern lebhaft ihre geschäftlichen Erfolge. Vor etwa vier Jahren sind sie aus Italien zurückgekehrt, wo sie beinahe die gesamten 90er Jahre in diversen Restaurants, Bars und Cafés gearbeitet hatten. Mit dem ersparten Geld und den neuerlernten Fertigkeiten haben sie dann hier – im Zentrum der westalbanischen Hafenstadt Vlora – eine kleine „Piceria“ eröffnet. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten und relative hoher Lokalmiete prosperiert das Geschäft und Sohn Enver konnte mittlerweile bereits sein eigenes Kleinunternehmen – wiederum klassisch italienisch – eine „Gelateria“ aufbauen. Warum, fragt er schelmisch, sollte ich dort ein kleiner Arbeiter bleiben, wenn ich hier Chef sein kann?

Solche Fälle erfolgreicher Unternehmensgründung von rückkehrenden Emigranten sind in Albanien leider noch zu selten. Zu schwierig sind die Lebensbedingungen in Albanien, zu desolat und unterentwickelt die Infrastruktur, zu gering die allgemeine Kaufkraft. Doch sind die Investitionen rückkehrender Migranten in ganz Albanien auch aufgrund der allgemein positiven Wirtschaftsentwicklung der letzten 5 Jahre – mit Wachstumsraten um die 6% - stark im Steigen begriffen und eröffnen dem verarmten Land so völlig neue Entwicklungschancen. Im Vergleich zum derzeit noch schwer unterentwickelten privaten Unternehmenssektor sind die Auswirkungen bereits heute enorm. In der gesamten Region Vlora zählte das lokale Arbeitsmarktservice zuletzt knapp 2,600 private Unternehmen, wovon nicht weniger als 40% von rückkehrenden Migranten gegründet wurden. Alleine in den letzten 9 Monaten wurden 416 neue (meist Klein- und Kleinst-) Unternehmen gegründet, so gut wie alle von Rückkehrern.

Das eigentliche Potential der Rückkehrer für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wird deutlich, wenn man einen Blick in die Geschichte der Auswanderung aus Albanien in den letzten 14 Jahren wirft. Nach dem Zusammenbruch des weitgehend isolierten kommunistischen Regimes im Jahre 1990 folgte zunächst eine erste Massenauswanderung in Richtung Italien und Griechenland. Obwohl sich die Lage ab 1993 wieder etwas stabilisiert hatte, kam es im Gefolge des Zusammenbruchs eines landesweiten Investitionsbetrugs („Pyramidenspiels“) im Jahre 1997, bei dem Hunderttausende ihre gesamten Ersparnisse verloren, zu chaotischen Zuständen und einer weiteren Auswanderungswelle. Die Volkszählung von 2001 ergab eine grobe Schätzung von 750,000 Ausgewanderten, was bei einer verbleibenden Wohnbevölkerung von 3 Millionen Albanern einem Viertel der Wohnbevölkerung und einem Drittel der erwerbstätigen Gesamtbevölkerung entspricht. Von dieser Gesamtzahl leben heute in etwa 500,000 in Griechenland und 200,000 in Italien, die Hälfte davon noch immer ohne legalen Aufenthaltsstatus. Trotz politischer Wirren und allgemein mangelnder Sicherheit war und ist der Großteil der Abwanderung ökonomisch motiviert – kein Wunder bei anhaltend hoher Arbeitslosigkeit von rund 30% und Monatslöhnen zwischen €100 bis €300 in Albanien im Vergleich zum Zehn- bis Zwanzigfachen im benachbarten Ausland.

Angesichts dieser krassen Unterschiede im Wohlstandsniveau ist auch klar, dass die anhaltende Bedeutung der Auslandsalbaner für die albanische Wirtschaft nicht in einer Rückkehr von nennenswerten Teilen der Emigranten liegt, sondern vielmehr in deren Geldüberweisungen an ihre Familien im Heimatland. Seriösen Schätzungen zufolge belaufen sich diese heute bereits auf mehr als 30% des Volkseinkommens und übersteigen somit sowohl Exportvolumen als auch ausländische Direktinvestitionen um ein Vielfaches. Theoretisch sollte dieser Mittelzufluss ja auch die lokale Entwicklung nachhaltig ankurbeln und so nach und nach zu einem selbsttragendem Aufschwung in Albanien führen. Das Problem dabei ist jedoch, dass ein Großteil dieser Auslandsüberweisungen („Remissen“) für die Deckung des täglichen Bedarfs – also für Konsumgüter – benötigt wird und nur ein Bruchteil in produktive Investitionen fließt. Das gleiche gilt auch für jene Migranten, die saisonal im Ausland arbeiten und dann wieder mehrere Monate im Jahr zu Hause verbringen. Ihre Mittel fließen oft in den Hausbau, was zwar zu einem regelrechten Bauboom in mehreren Städten Albaniens geführt hat, langfristig aber die Produktivität nicht heben kann.

Wenn also Investitionen in den Aufbau von Kleinunternehmen getätigt werden, so geschieht dies vor allem durch rückkehrende Emigranten – die „neue Unternehmerklasse“ in Albanien, die neben ihrem bescheidenen Startkapital auch neu erlernte Fähigkeiten und Know-how mitbringen, vor allem aber den Willen, es mit ihrem in der Emigration hart erarbeiteten Geld in der Heimat zu schaffen. Auch heute fällt noch ein beträchtlicher Anteil von neugegründeten Kleinunternehmen in die Kategorie „Kleinhandel“, ein Phänomen das der albanischen Wirtschaft schon in der Vergangenheit den Spitznamen „Kiosk-Economy“ einbrachte. Daneben entfällt auch ein großer Anteil auf Dienstleistungsbranchen wie Restaurants, Bars und Hotels – gerade in den Küstenregionen entwickelt sich derzeit so etwas wie der Vorläufer einer Tourismusindustrie, der wiederum vor allem auf den lokalen Markt und die in den Sommermonaten hier urlaubenden Auslandsalbaner abzielt. Wichtig ist auch der Bausektor, sowie neu entstandene Zulieferfirmen in der Holz-, Aluminium- oder Glasbearbeitung, alles Bereiche, die noch vor kurzem ausschließlich aus Importen gedeckt wurden. Schließlich der Sektor Landwirtschaft: Dieser nach wie vor wichtigste Wirtschaftssektor Albaniens kämpft vor allem mit seiner Kleinteiligkeit und niedriger Produktivität. Bescheidene Investitionen fließen hier vor allem in bessere Maschinen, Transportmittel oder neue Produkte (Weinanbau, Glashäuser für Gemüseanbau), sind aber vor allem durch den eingeschränkten Marktzugang benachteiligt.

Neben den wachsenden Direktinvestitionen rückkehrender Emigranten in Kleinunternehmen und den anhaltenden Geldtransfers an die Familien der Auslandsalbaner gibt es noch eine dritte Art von Geldflüssen nach Albanien, die zunehmend an Bedeutung gewinnt. In einer wachsenden Zahl von albanischen Gemeinden gelingt es umtriebigen, wenn auch von ständiger Geldnot geplagten, Lokalpolitikern „ihre“ im nahen Ausland lebenden Emigranten zu organisieren und zu kollektiven Investitionen in lokale Infrastrukturprojekte zu motivieren. Dazu muss man einerseits wissen, dass Emigranten aus bestimmten Herkunftsregionen in Albanien konzentriert in bestimmten Zielregionen in Griechenland oder Italien leben (z.B. Athen, Ioannina, Rom, Padua) und dass diese wiederum enge Beziehungen zu ihren Herkunftsregionen aufrecht erhalten. Um diese besonderen Beziehungen zwischen Herkunfts- und Zielregionen besser zu verstehen, besuchten wir auch mehrere Gemeinden in der südalbanischen Region Gjirokastra.

In dieser, direkt an Griechenland angrenzenden, Region lebt eine anteilsmäßig bedeutende Minderheit von griechischsprachigen Albanern. Aufgrund der sprachlichen und geographischen Nähe ist die gesamte Region seit dem Umbruch besonders stark von der Abwanderung nach Griechenland betroffen. Migration fließt hier allerdings in beide Richtungen. Abwanderung und Rückwanderung wechseln einander ständig ab, bestimmt oft durch die saisonalen Arbeitsmöglichkeiten in Landwirtschaft und Tourismus in Griechenland. „Zirkuläre Migration“ nennen Migrationsforscher dieses Phänomen temporärer Wanderungen, doch nach fast 14 Jahren seit der Öffnung Albaniens lässt sich das Phänomen besser mit einem anderen Schlagwort – „Transnationalismus“ – beschreiben. Viele haben heute bereits Wohnungen oder Häuser auf beiden Seiten der Grenze, ihre Kinder gehen in Griechenland zur Schule, verbringen Ferien oder Wochenenden in Albanien, kurz: sie leben in beiden Welten.

Der Bezirksvorstand von Tripol, einem ländlichen Bezirk von Gjirokastra mit etwa 9,000 großteils griechischsprachigen Einwohnern, veranschaulicht seine „lokale Auslandsdiplomatie“ anhand einer langen Liste von Namen und Adressen „seiner“ Emigranten. Seit einigen Jahren sammelt er regelmäßig Geld und konnte so schon mehrere wichtige kommunale Projekte durchführen – vor allem den Bau von Straßen, Wasser- und Elektrizitätsleitungen. Das Geld dafür hat der aktive Lokalpolitiker, der seine Wähler auch regelmäßig bei Versammlungen in Griechenland und Italien trifft, durch eine Kombination von lokalen Abgaben, Beiträgen internationaler Hilfsorganisationen sowie Beiträgen von Auslandsalbanern im Verhältnis 1:1:1 aufgebracht. Derzeit sammelt er wieder für die Errichtung eines Altenheims in seinem Bezirk, ein Projekt, das vor allem jene Auslandsalbaner mit zurückgebliebenen Elternteilen begrüßen dürften.

Das Thema Migration in Albanien hat viele Aspekte. Zu den positiven (Entlastung des Arbeitsmarkts, Auslandsüberweisungen) kommen auch negative („brain drain“ von qualifizierten Arbeitskräften, Entvölkerung ganzer Dörfer) und zunehmend komplexe Auswirkungen („zirkuläre Migration“, Urbanisierung durch interne Migration und Rückkehr). Angesichts der großen Bedeutung von Migration für Albanien ist es nun höchst an der Zeit eine umfassende Migrationspolitik zu definieren und umzusetzen. Ein Entwurf für eine solche umfassende Migrationspolitik wurde auch bereits von einer interministeriellen Arbeitsgruppe der albanischen Regierung, unter tatkräftiger Unterstützung internationaler Organisationen wie der UN, der Weltbank und der Europäischen Union, ausgearbeitet und soll die zentrale Richtlinie für die Migrationspolitik der nächsten 5 Jahre bilden. Diese „Nationale Strategie für Migration (NSM)“ enthält ein Bündel von Zielsetzungen und Umsetzungsmaßnahmen. Neben der Bekämpfung der illegalen Migration und der Anpassung der Migrationssteuerung an europäische Standards wird ein besonderer Schwerpunkt auf die Unterstützung der nach Albanien rückkehrenden Migranten gelegt. Solche unterstützenden Maßnahmen bestehen zum Beispiel darin, rückkehrenden Universitätsabsolventen Stellen in der öffentlichen Verwaltung anzubieten oder rückkehrwilligen Kleinunternehmern mit Mikrokrediten zu helfen. Daneben wird auch versucht die derzeit meist illegal stattfindende Migration in legale Bahnen zu lenken indem temporäre Migrationskontingente mit Zielländern wie Italien oder Griechenland ausgehandelt werden. Die schwierigste Aufgabe der albanischen Regierung, und ein übergeordnetes Ziel der albanischen Entwicklungspolitik, wird aber wohl auch weiterhin darin bestehen qualifizierte emigrationswillige Menschen durch die Schaffung entsprechender Alternativen im Inland von der Auswanderung abzuhalten.



This article has been published in the Austrian Weekly "Die Furche" in January 2005. It takes a look at the migration situation in Albania - one of the poorest countries in Europe - based on an OECD expert mission to that country in October 2004.For pictures of that mission click here.
Dieser Artikel erschien im Jänner 2005 in der Österreichischen Wochenzeitschrift "Die Furche" unter dem Titel "Zuhause der Chef sein". Er beleuchtet die aktuellen Tendenzen der Aus- und Rückwanderung nach Albanien und basiert vor allem auf einer OECD Expertenmission im Oktober 2004. Für Bilder von der Mission bitte hier klicken.


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